Verkündigung an die Allheilige Gottesgebärerin
In stetem Ablauf ruft uns das Kirchenjahr die großen Ereignisse im irdischen Leben des Herrn ins Gedächtnis, macht sie uns zur Gegenwart. Aber das Kirchenjahr ist in sich kein Abbild des Lebens unseres Herrn auf Erden. Es reiht die Heilsereignisse nicht in derselben Folge aneinander, in der sie geschehen sind. Nirgendwo wird das deutlicher als zu dieser Zeit des Jahres. Wir feiern die Verkündigung der Geburt des Herrn an seine Mutter – und haben dieses Jahr gerade und genau drei Wochen Zeit, um uns noch auf die Feier des Todes und der Auferstehung des Herrn vorzubereiten. Deutlicher kann es uns kaum vor Augen geführt werden, wozu der Herr in das menschliche Leben eingetreten ist: Er wurde Mensch, um als Mensch zu sterben.
Doch wenden wir uns dem Mysterium dieses Tages zu: dem Beginn seines menschlichen Lebens. Denn heute beginnt es, mit der Zeugung, nicht in neun Monaten mit der Geburt, wie jedes Menschenleben mit der Zeugung beginnt, nicht mit der Geburt. Noch nie hat man das so klar und unzweideutig gewusst wie heute – und ist noch nie so verantwortungslos und verbrecherisch damit umgegangen wie heute. Das Böse ist letztlich ein Geheimnis, das nicht zu erklären ist. Und es trägt zu jeder Zeit sein eigenes Gesicht. Die bedenkenlose Tötung ungeborenen Lebens gehört zur ekelhaften und erschreckenden Fratze des Bösen unserer Zeit. Nicht zuletzt deshalb haben wir seinerzeit unserer neugegründeten Gemeinde dieses Patronatsfest gegeben, um darauf hinzuweisen, dass der Eintritt des Engels bei der Jungfrau den Beginn des menschlichen Lebens unseres Erlösers markiert, nicht seine Geburt, und dass dieses Ereignis der entscheidende Beginn unseres Heiles ist.
Zwei Evangelien berichten uns vom Beginn des Menschenlebens unseres Erlösers, nämlich Matthäus und Lukas, aber sie tun es auf denkbar verschiedene Weise. Berichtet Matthäus aus der Perspektive des Joseph, so Lukas aus jener der Mutter. Übrigens ist mir diese Tage einmal aufgefallen, dass uns die Evangelien nicht darüber berichten, was sie miteinander über dieses Ereignis gesprochen haben. Und da muss doch Einiges zu reden gewesen sein, sollte ein Zusammenleben überhaupt noch denkbar sein. Doch würde eine Antwort auf eine solche Frage nur unsere menschliche Neugier befriedigen und uns nicht zum Heil dienen. Und die Evangelien, das Evangelium, ist nun einmal Heilsbotschaft und nicht romanhafte Unterhaltung. Kein überflüssiges Wort steht dort. Und so lesen wir auch nur von der Unterrichtung beider durch Engel – und das getrennt voneinander.
Lukas nun unterrichtet uns über die Worte des Engels Gabriel an die Jungfrau. Er macht sie bekannt mit dem Unvorstellbaren – und schließlich erklärt sie sich bereit, dem Willen Gottes sich zu unterwerfen und seinem Ratschluss bedingungslos zu dienen – ohne einzuwerfen, in welche Lage sie das bringen wird, die zu erwartende Zerstörung der geplanten und vorbereiteten Ehe, die gesellschaftliche Ächtung, am Ende gar die Steinigung, wenn das Gesetz des Moses seine strenge Anwendung findet. Doch Gott, so die Verheißung, hat Großes, ja Größtes, mit diesem Kinde vor. So wird er es auch aufziehen und schützen – ohne Vater, so scheint es und ist es zu erwarten.
Dann ist plötzlich doch von einem Vater die Rede. Das Kind wird seine menschliche Entwicklung allein aus der Mutter nehmen. Die Samenzelle eines Mannes wird dabei nicht gebraucht und keine Rolle spielen. Und doch hat das Kind einen Vater. Nein, falsch! Es hat sogar zwei Väter!
Hört auf die Rede des Engels: „Gott wird ihm“, so sagt er, „den Thron seines Vaters David geben.“ (Lk 2,32). David also ist der gesuchte Vater, und das Kind ist sein Erbe als König über Israel. Wie das gemeint ist, können wir ein paar Verse vorher erfahren. Dort teilt uns der Evangelist mit, dass die Jungfrau, von der er erzählt, verlobt war mit einem Mann namens Joseph aus dem Hause Davids. Wenn nun der Engel prophezeit, dass Gott dem Kind den Thron seines Vaters David geben wird, so kann damit nur gemeint sein, dass Joseph, der Bräutigam der Jungfrau, ob er es nun weiß oder nicht, der legitime Erbe des von Gott gestifteten davidischen Königtums über Israel ist. Matthäus berichtet uns ausführlich, wie Joseph dazu kam, seine Verlobte zu sich zu nehmen, obwohl deren Kind nicht von ihm stammte. Lukas hingegen setzt es schlicht und einfach voraus, dass es so war. Indem Joseph aber die schwangere junge Frau „zu sich nimmt“ (Мt 1,24), erkennt er deren Kind rechtlich als sein eigenes an. Was er hat, das wird er ihm vererben, und das sind vor allem seine Rechte als von Gott bestellter Thronprätendent Israels. So wird David zum „Vater“ des ungeborenen Kindes und das Kind zu seinem Erben. Eines freilich wird sich grundlegend ändern: Das von Joseph adoptierte Kind wird sich nicht, wie er selbst und eine jahrhundertelange Reihe seiner Vorfahren mit der Rolle eines inaktiven Thronprätendenten begnügen. Das Kind wird diesen Thron selbst besteigen und die Herrschaft über das Volk antreten. Wie? Als Erneuerer der davidischen Dynastie von ehedem, als erster einer Reihe von Neo-Davididen, die aufeinander folgen werden, wie es der Lauf dieser Welt eben einfordert? Nein! Der Engel fügt noch etwas hinzu, was vorerst ganz und gar rätselhaft bleiben muss: „Seiner Herrschaft wird kein Ende sein“ (Lk 1,33). Wo hat es je einen Herrscher gegeben, dessen Herrschaft nie geendet hätte? Vielleicht hatten manche Österreicher den Eindruck von Kaiser Franz Joseph. Doch auch er starb 1916 in Wien nach 68 Regierungsjahren, und wenig später war sein Vielvölkerimperium nur noch ein Schutthaufen der Geschichte. Der Herrscher, dessen Herrschaft kein Ende nimmt, kann kein sterblicher Mensch sein. Nur Gottes eigene, persönliche Herrschaft kann und wird nie enden. Der adoptierte Josephs- und Davidssohn ist dieser Herrscher. Er allein und sonst keiner. „Sohn Gottes wird man ihn nennen“ – so sagt der Engel (Lk 1,32). Und Gottes ewiger Sohn, von ihm gezeugt vor, besser: außerhalb jeder Zeit, das ist er. Als solcher nimmt er keinen Anfang. Aber als Davidssohn nimmt er einen Anfang, und zwar heute. Und Gottessohn – und Davidssohn wird er bleiben ohne Ende.
Und auch wir werden bleiben. Denn wir sind das neue Haus Jakobs, über das er herrschen wird in Ewigkeit. Und seiner Herrschaft wird kein Ende sein.
„Heute ist der Anfang unseres Heiles und die Offenbarung des Mysteriums von Ewigkeit.
Gottes Sohn wird der Sohn der Jungfrau, und Gabriel kündet die Gnade.“
Priester Dr. Peter Plank